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13.11.2013 Artikel in der Nürnberger Zeitung

Prostituierte arbeiten fast immer freiwillig
Beratungsstelle „Kassandra“ widerspricht der Kampagne von „Emma“ – vor 7 Stunden

Nürnberg – Alice Schwarzer sorgt für Furore. In einem bundesweiten Aufruf plädiert die Chefin der Zeitschrift „Emma“ bekanntlich für eine „Abschaffung der Prostitution“. Mit vollkommen falschen Argumenten, sagen Expertinnen aus der Szene. Gewalt und Zwang spielten in der Prostitution – entgegen den Behauptungen Schwarzers – nur eine untergeordnete Rolle, betont auch die Nürnberger Prostituierten-Beratungsstelle „Kassandra“.

Auch im Nürnberg Rotlichtbezirk – hier ein Bild aus der Ottostraße – ist Gewalt eher selten. Das sagt die Nürnberger Prostituierten-Beratung „Kassandra“, die nach eigenen Angaben zu rund 1000 Frauen im Jahr Kontakt hat. © Eduard Weigert

Etwa 1250 Sexarbeiter/innen sind laut Kassandra in der Region tätig. Rund 95 Prozent davon arbeiten freiwillig, unterstreichen die Beraterinnen Bärbel Ahlborn und Beate Leopold. In den Wohnungen und Clubs in der Region, aber auch an der Frauentormauer, gehe „Gewalt nur sehr selten vom Kunden aus“, so Ahlborn.

Gewaltpotenzial sehen die erfahrenen Beraterinnen immer dort, wo Prostituierte in Zwangslagen geraten – etwa beim Drogen- und beim Straßenstrich. Der Opfer-These der „Emma“- Chefin hält Ahlborn entgegen, Prostituierte seien in der Regel „klar denkende Frauen, die sich auch von einer Frau Schwarzer nicht sagen lassen, wie sie sich verhalten sollen“.

Beispiel Migrantinnen: Dass deren Zahl in der Szene deutlich zugenommen hat, verhehlt auch Kassandra nicht. Doch dieses Problem sei nicht durch das (seit neuestem umstrittene) Prostituierten-Gesetz (ProstG) von 2002 der damaligen rot-grünen Bundesregierung entstanden. Vielmehr führten die fundamentalen Veränderungen in Europa zu einer Armutsmigration nach Deutschland, so Ahlborn und Leopold.

Und Migrantinnen, die in Deutschland der Prostitution nachgehen, haben dies nach Erfahrung von Kassandra meist schon im Heimatland getan. Gemessen am Heimatland seien für die Frauen selbst schlechte Lebensumstände hier das deutlich kleinere Übel.

 

Gesetz brachte wichtige Fortschritte

Im Gegensatz zur Schwarzer-Kampagne finden die Kassandra-Frauen das ProstG gar nicht so schlecht. Prostitution war in Deutschland schon immer legal – aber sittenwidrig. Mit der Folge, dass ein vorenthaltender Freier-Lohn vor 2002 nicht einklagbar war. Das hat das ProstG geändert, und den Frauen zudem den Zugang zur Sozialversicherung eröffnet: Krankenkassen dürfen Prostituierte nicht mehr wegen ihres Berufs ablehnen.

Die Vermietung von Arbeitsräumen an Sexarbeiter/innen wurde früher als Förderung der Prostitution rechtlich verfolgt. Auch dies hat das ProstG geändert. Natürlich gebe es an dem Gesetz Nachbesserungsbedarf, sagt Ahlborn. „Aber ich habe keine Sexarbeiterin getroffen, die nicht dankbar gewesen wäre für das Gesetz.“

Umso kritischer sieht Kassandra die aktuelle politische Diskussion um eine Novellierung des ProstG. Ein Verbot der Prostitution – sei es generell, sei es für Frauen unter 21 Jahren – sei keine Lösung, sondern öffne lediglich die Tore in Richtung Abhängigkeit und Gewalt, so Ahlborn. Eine Meldepflicht beim Gesundheitsamt sei wenig erfolgversprechend.

Die Erfahrung zeige, dass dort nur hochprofessionelle Prostituierte auftauchten, nicht aber diejenigen Frauen, die tatsächlich eingehendere Beratung bräuchten. Ahlborn und Leopold favorisieren vielmehr das Nürnberger Modell einer aufsuchenden Beratung, die viele Frauen freiwillig zum Gesundheitsamt bringe.

Sperrbezirke, wie in Nürnberg, lehnt Kassandra ab. Solche Einschränkungen gebe es sonst für keinen Berufsbereich; in Berlin seien Politik, Polizei und Staatsanwaltschaft einhellig gegen Sperrbezirke – und die Hautpstadt sei auch kein Sündenbabel.

Eines ist den Kassandra-Beraterinnen besonders wichtig: Eine gewerbliche Zimmervermietung dürfe nicht als gewerbliche Prostitutionsstätte gewertet werden, solange zwei bis maximal drei Frauen gemeinsam eine Wohnung mieten. Ansonsten würden Auflagen den Frauen künftig fast jede Möglichkeit nehmen, weiter selbstständig und selbstbestimmt in dem Gewerbe zu arbeiten.

Tilmann Grewe

Prostitution ist nicht gleich Menschenhandel. Nicht nur Deutsche, sondern auch Migrant_innen sind überwiegend freiwillig und selbstbestimmt in der Sexarbeit tätig. Prostituierte, egal welcher Herkunft, pauschal zu Opfern zu erklären, ist ein Akt der Diskriminierung.

Obwohl Prostitution im Volksmund als das älteste Gewerbe der Welt gilt, ist sie in den wenigsten Ländern als Arbeit anerkannt. Im Gegenteil, Sexarbeiter_innen werden in den meisten Teilen der Erde verfolgt, geächtet und von der Gesellschaft ausgeschlossen. Deshalb fordern Sexarbeiter_innen weltweit die Entkriminalisierung der Prostitution und ihre berufliche Anerkennung.

Diesen Gedanken verfolgte auch die Bundesrepublik mit der Einführung des Prostitutionsgesetzes im Jahre 2002. Durch die rechtliche Anerkennung hat sich die Situation für Sexarbeiter_innen in Deutschland verbessert. Sie können ihren Lohn einklagen und haben die Möglichkeit, sich zu versichern. Außerdem ist die Schaffung angenehmer Arbeitsbedingungen und Räumlichkeiten nicht mehr als „Förderung der Prostitution“ strafbar. An den Rechten der Polizei, Prostitutionsstätten jederzeit zu betreten, hat das Gesetz nichts geändert. Die Zahl der Razzien hat seitdem zugenommen.

Zwar hat das Prostitutionsgesetz Schwächen und eine Reform wäre notwendig. Das Hauptproblem ist jedoch nicht das Gesetz selbst, sondern der fehlende Wille zu seiner Umsetzung in den einzelnen Bundesländern.
Entgegen vieler Behauptungen ist das Prostitutionsgesetz nicht für den Menschenhandel in Deutschland verantwortlich. Wie aus dem Lagebericht „Menschenhandel“ des BKAs hervorgeht, hat die Zahl der identifizierten Opfer seit seiner Einführung sogar abgenommen. Auch in Neuseeland, wo Prostitution seit 2003 als Arbeit anerkannt ist, ist keine Zunahme des Menschenhandels zu verzeichnen.

Zu den Faktoren, die Menschenhandel begünstigen, zählen globale Ungleichheiten, restriktive Migrationsgesetze sowie die Rechtlosigkeit der Betroffenen. Eine erfolgreiche Bekämpfung von Menschenhandel erfordert umfassende strukturelle Reformen auf globaler Ebene und einen menschenrechtsbasierten Ansatz.

Eine Kriminalisierung der Kund_innen, die erotische Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ist zur Lösung dieser Probleme ungeeignet. Das sogenannte „Schwedische Modell“ hat zwar die sichtbare Straßen-prostitution verdrängt, aber weder die Prostitution an sich, noch den Menschenhandel nachweislich reduziert. Die Arbeitsbedingungen haben sich indes extrem verschlechtert. Dänemark und Schottland lehnen die Einführung des „Schwedischen Modells“ bereits ab.

Darum fordern wir:

●Beteiligung von Sexarbeiter_innen an politischen Prozessen,
die sich mit dem Thema Prostitution befassen.

●Keine Ausweitung der Polizeibefugnisse und keine staatliche
Überwachung oder Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten.

●Keine Kriminalisierung der Kund_innen, weder nach dem
Schwedischen, noch nach einem anderen Modell.

●Aufklärung statt Zwang und Verbot, staatlich geförderte
Weiterbildungsangebote * für Sexarbeiter_innen.

●Kampagnen gegen Stigmatisierung und für einen respektvollen
Umgang mit Prostituierten.

●Bleiberechte, Entschädigungen und umfassende Unterstützung für
Betroffene von Menschenhandel.

www.sexwork-deutschland.de
( Hier kann der Appell unterstützt werden)

21.1.2013

Liebe Leser_innen ,
auf dem letzten bufas-Kongress und den anschließenden Prostituierten-Tagen in Frankfurt haben sich einige engagierte Sexworkerinnen zusammengefunden und wollen nun einen deutschlandweiten Sexworker-Verband gründen.
Mehr dazu auf http://www.sexwork-deutschland.de
Kassandra wird die Gründung und Arbeit des Verbandes unterstützen.

2012

Hörtexte für migrierte Analphabetinnen/funktionale Analphabetinnen in der Prostitution
Die Streetworkerinnen von Kassandra e.V. und der AIDS/STI-Beratungsstelle des Gesundheitsamtes stellten in den Jahren nach den EU-Osterweiterungen fest, dass zunehmend auch Analphabetinnen bzw. funktionale Analphabetinnen aus Südosteuropa in die Prostitution migrieren. Analphabetinnen waren bislang in der Sexarbeit nur aus Thailand bekannt. Mit Printmaterialien können Menschen, die nicht einmal ihre eigene Sprache lesen können, nicht erreicht werden. So entstand die Idee Hörtexte in der Landessprache zu produzieren und als CDs und im leicht weiterzugebenden .mp3-Format zur Verfügung zu stellen.

Dritter Sieger beim Bayerischen Gesundheitsförderungs- und Präventionspreis 2012
Dieses Projekt der AIDS/STI Beratungsstelle gemeinsam mit der Prostituierten-Beratungsstelle Kassandra e.V wurde mit dem dritten Preis beim Bayerischen Präventionspreis ausgezeichnet.

Umsetzung und Inhalt
Es wurden Aufnahme von 60 Minuten Hörtext in drei Sprachen (rumänisch, bulgarisch + thai) im Tonstudio eingesprochen. Track 1 = Inhaltsverzeichnis, Track 2 = Herausgeber, weitere 11 Tracks mit Informationen zu den Themen:
Prävention von AIDS/STI (sexuell-übertragbare Infektionen) und Gewalt, Information über die gesetzliche Lage in der BRD (was ist legal, was nicht, Steuer, Krankenversicherungspflicht etc.) für Prostituierte, Information zu AIDS/STI/Schutzmöglichkeiten, richtige Intimhygiene, richtige Kondombenutzung, sicheres Arbeiten + Adressen von Gesundheitsämtern, Prostituiertenberatungsstellen und Anlaufstellen für Opfer von Gewalt bundesweit. Die Hörtexte wurden auch anderen Beratungsstellen in der BRD angeboten, die im gleichen Sektor arbeiten. Ein Track mit den Adressinformationen wurde hierfür in der jeweiligen Sprache im Tonstudio neu eingesprochen.
Die Hörtexte werden seit 2010 erfolgreich eingesetzt. Von der Original-CD immer wieder neue Exemplare gebrannt. Aktuell, 2012, werden die Texte in ungarisch übersetzt und eingesprochen, da auch ungarische Analphabetinnen in der Sexarbeit tätig sind.

Zum 25 Jubiläum des Vereins Kassandra e.V. veranstaltete die Beratungsstelle einen Tag der offenen Tür und bot zuvor einen Informationsstand in der Nürnberger Fußgängerzone an. Wir danken allen Besuchern für ihr reges Interesse.

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